Kutzers Zwischenruf: Die Wall Street ist sicherer als unser Aktienmarkt

Hermann Kutzer · Uhr

Welche Aktienmärkte bieten mehr relative Sicherheit als andere? Hier hat sich in der vergangenen Woche über den Atlantik grundsätzliches geändert. Denn mit der Diskussion über das Risiko eines sich ausbreitenden Kriegs in Europa gehen immer mehr Anlagestrategen auf Distanz zu unseren Märkten. Gleichzeitig stellen sie die Vorteile der Wall Street heraus. Bis auf weiteres schließe ich mich diesem Umdenken an und gebe den (ohnedies oft kritisierten) Home Bias erst einmal auf. Denn es gilt jetzt, das große Ganze zu betrachten, was von Allianz Global Investors jüngst so treffend skizziert wurde: Die Welt scheint sich derzeit nur in Superlativen fassen zu lassen. Ein historisches Ereignis jagt das andere. Innerhalb von nur 24 Monaten haben wir die erste Pandemie seit einem Jahrhundert, die tiefste Rezession der jüngsten Geschichte, die höchsten US-Inflationsraten seit 40 Jahren und den schwersten Konflikt in Europa seit Generationen erlebt. Die Meldungen überschlagen sich geradezu, und man findet kaum noch Muße, die Lage einmal in Ruhe zu betrachten. Nicht zuletzt deshalb übersieht man leicht, dass die „neue Normalität“ alles andere als normal ist.

Tatsächlich kommen kritische Stellungnahmen zu den Ukraine-Kriegsfolgen und den westlichen Sanktionen gegenüber Russland mittlerweile aus allen Lagern. Zahlreiche deutsche Wirtschaftsinstitute warnen vor den Auswirkungen des Kriegs auf die hiesige Wirtschaft. Zusätzliche Lieferkettenprobleme bekommt bereits die Mehrheit der deutschen Unternehmen zu spüren. Führende deutsche Forscher sehen den russischen Krieg gegen die Ukraine als ernsthafte Bedrohung für das Konjunkturwachstum hierzulande. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) hat seine Konjunkturprognose für das laufende Jahr angesichts der möglichen Folgen des Kriegs von 4 Prozent im Dezember auf jetzt 2,1 Prozent gesenkt. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) teilte ebenfalls mit, der Angriff Russlands habe die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland und in Europa „drastisch verschlechtert“. Auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) sieht erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen für Deutschland.

Schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine war Deutschlands Wirtschaft vor dem Hintergrund der vierten Welle der Corona-Pandemie und den Lieferengpässen stärker belastet als die Konjunktur vieler anderer EU-Staaten. Aktuellen Angaben des Statistischen Bundesamts zufolge erreichten 20 der insgesamt 27 Länder der Europäischen Union (EU) im vierten Quartal 2021 das jeweilige Niveau vor der Corona-Krise oder übertrafen es sogar. In Deutschland lag die Wirtschaftsleistung dagegen um 1,1 Prozent niedriger als im vierten Quartal 2019.

Gemeinsam ist allen internationalen Analysen die vorsichtige Grundhaltung gegenüber neuen Aktienanlagen in der gegenwärtig unsicheren Phase. Auch herrscht weitgehende Übereinstimmung, dass Anleger in diesem Jahr mit einer anhaltend hohen Volatilität rechnen müssen – was viele interessierte Aktienfans erfahrungsgemäß abschreckt. Unterschiedlich werden aber die Chance-Risiko-Relationen nach Regionen gesehen: Europa hat derzeit keine (oder kaum) Sympathisanten, China (und asiatische Schwellenländer) sehen Fondsmanager durchaus differenziert, also mit unterschiedlichen Vorzeichen, und die USA wird auch auf dem aktuellen Kursniveau eindeutig positiv beurteilt.

PS: Vorsicht in der kommenden Woche: Die negative Haltung gegenüber deutschen Aktien könnte sich verstärken, insbesondere im Falle eines deutlich verschlechterten Ifo-Konjunkturklima-Indikators (am Freitag)

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