Schwere Krawalle in Frankreich - Regierung prüft "alle Optionen"
Paris (Reuters) - Frankreichs Regierung hält sich angesichts der anhaltenden Unruhen nach dem Tod eines Jugendlichen durch einen Polizei-Schuss alle Optionen offen.
Präsident Emmanuel Macron kündigte nach einem Krisentreffen am Freitag in Paris an, einige Großereignisse in den besonders von den Unruhen betroffenen Regionen würden abgesagt. Innenminister Gerald Darmanin forderte lokale Behörden auf, den Verkehr von Bussen und Straßenbahnen ab 21.00 Uhr Freitagnacht in ganz Frankreich einzustellen. "Priorität hat es, die nationale Einheit zu gewährleisten, und dazu muss Recht und Ordnung wiederhergestellt werden", sagte Ministerpräsidentin Elisabeth Borne. Alle Möglichkeiten würden geprüft.
Macron appelliert an Internetplattformen wie TikTok oder Snapchat, mit den Behörden zusammenzuarbeiten, um die Lage zu beruhigen. "Soziale Netzwerke spielen eine signifikante Rolle in den Ereignissen der vergangenen Tage." Die Aufständischen organisierten sich über die Plattformen, zudem komme es zu Nachahmungstaten. "Manchmal scheint es, als ob einige von ihnen auf der Straße die Video-Spiele nachspielen, die sie vergiftet haben." Einige junge Menschen hätten den Bezug zur Realität verloren.
Der Präsident hatte vorzeitig ein Gipfeltreffen der Europäischen Union verlassen, um rechtzeitig zu der Krisensitzung zurück in Paris zu sein. Bislang hat er ausgeschlossen, wegen der Krawalle den Notstand auszurufen. Die Ereignisse riefen auch die Vereinten Nationen auf den Plan.
MINDESTENS 875 FESTNAHMEN IN DER NACHT ZUM FREITAG
Mindestens 875 Menschen seien in der dritten Krawallnacht in Folge festgenommen worden, teilten die Behörden mit. Mehr als 200 Polizisten seien verletzt worden. In mehreren Städten kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Ministerpräsidentin Borne sprach von einer "intolerabelen und unentschuldbaren" Gewalt. Sie bekräftigte ihre Unterstützung für Polizei und Feuerwehr, die "tapfer ihre Pflichten erledigten".
In Marseille im Süden des Landes untersagten die Behörden für Freitag weitere Demonstrationen. Der öffentliche Nahverkehr wird bereits um 19.00 Uhr eingestellt.
Landesweit waren am Donnerstag rund 40.000 Polizistinnen und Polizisten im Einsatz, um die Gewaltausbrüche in den Griff zu bekommen. In mehreren Städten in ganz Frankreich wurden Gebäude und Fahrzeuge in Brand gesetzt, Schaufenster eingeworfen und Busse umgestoßen. Insgesamt wurden 79 Polizeistationen und 119 weitere öffentliche Gebäude angegriffen, darunter 34 Rathäuser und 28 Schulen.
Entzündet hatten sich die Ausschreitungen am Tod des 17-jährigen Nahal, der am Dienstagabend bei einer Verkehrskontrolle von einem Polizisten erschossen wurde. Der Polizist hat eingeräumt, den Schuss auf den Jugendlichen abgegeben zu haben. Er befindet sich in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts des Totschlags.
Die Menschenrechtsorganisation der Vereinten Nationen betonte die Versammlungsfreiheit und forderte die französischen Behörden auf, dafür zu sorgen, dass die Polizeieinsätze angemessen erfolgten. "Das ist ein Zeitpunkt, in dem Land ernsthaft die zugrundeliegenden Themen des Rassismus und der Diskriminierung in der Polizei angehen muss", sagte eine Sprecherin. Macron hatte dagegen betont, dass es keinen systematischen Rassismus in der Polizei gebe.
REISEHINWEISE VERSCHÄRFT
In Berlin sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit, die Bundesregierung beobachte "natürlich im Augenblick mit einer gewissen Sorge, was sich da in Frankreich gerade zuträgt". Präsident und Ministerpräsidentin seien dabei, die Lage zu bewältigen. Ansonsten wolle er über die Lage vor Ort "aus der Ferne nicht darüber spekulieren". Das Auswärtige Amt aktualisierte seine Reise- und Sicherheitshinweise. "Informieren Sie sich über die aktuelle Lage an dem Ort Ihres Aufenthalts und meiden Sie weiträumig Orte gewalttätiger Ausschreitungen", heißt es in dem Hinweis für Reisende nach Frankreich. Zudem könne es zu Einschränkungen im öffentlichen Personennachverkehr in Paris kommen. Die US-Regierung riet ihren Bürgern am Donnerstag, Menschenansammlungen und Orte zu meiden, an denen es zu einem größeren Polizeieinsatz kommt. Auch die britischen Behörden mahnten zu Vorsicht und warnten vor Verkehrs-Einschränkungen.
Die Ausschreitungen wecken Erinnerungen an die Krawalle des Jahres 2005. Der damalige Präsident Jacques Chirac rief zu dem Zeitpunkt den Notstand aus. Auslöser war der Tod von zwei jungen Männern, die auf der Flucht vor der Polizei von Stromschlägen getroffen wurden.
(Bericht von Dominique Vidalon, Sudip Kar-Gupta, Jean-Stephane Brosse, Benoit Van Overstraeten, Pascal Rossignol, Elizabeth Pineau, Alexander Ratz und Marc Leras, geschrieben von Christina Amann, redigiert von Hans Busemann. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter Berlin.Newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder Frankfurt.Newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)