„Die kämpfen mit allen Mitteln, um nicht zu zahlen“
Der Schlag, der Uwe Steinhardt aus seinem bisherigen Leben katapultierte, fühlte sich gar nicht so heftig an. „Ich habe plötzlich einen Stoß in der linken Seite gespürt“, sagt der 53-Jährige, „aber ich bin nicht gestürzt, ich konnte mich fangen.“
Allerdings habe er „groteske Verrenkungen“ vollführt, wie ihm später ein Kollege erzählte, der den Unfall beobachtet hatte.
Uwe Steinhardt befand sich an jenem 2. August 2007 auf dem Gelände einer Jet-Tankstelle in Soest in Nordrhein-Westfalen. Er vermaß gerade die Schächte, über die die Benzintanks befüllt werden. Steinhardt war selbstständiger Vermessungstechniker, spezialisiert auf Tankstellen.
Es war 11.15 Uhr, Steinhardt stand mit dem Rücken zu den Zapfsäulen und trug gerade Messergebnisse in sein Feldbuch ein, das er vor dem Bauch hielt. Da setzte der Fahrer eines Opel Astra unvermittelt zurück. Er wollte an eine benachbarte Zapfsäule fahren, die gerade frei geworden war – und übersah Uwe Steinhardt, der hinter dem Auto stand und eine orangefarbene Warnjacke trug.
Steinhardt wurde am Becken getroffen, Kopf und Oberkörper schlugen auf das Auto. Nach dem Aufschlag schwang der Kopf zurück, dabei prallte, wie ihm seine Ärzte später erklärten, das Hirn gegen die Schädeldecke.
Heute ist Steinhardt zu 70 Prozent schwerbehindert. Er hat eine Odyssee zu Fachärzten aller möglichen Disziplinen durch ganz Deutschland hinter sich. Die gesammelten Diagnosen lesen sich – in der Kurzfassung – so: Beckenschiefstand, dauerhafte Schäden an der Wirbelsäule, verschobene Kiefergelenke, Augenmuskelstörung, irreparable Schädigung des sechsten Hirnnervs, daraus resultierendes Doppelbildersehen, Beeinträchtigung des Geruchs- und Geschmackssinns, Lärmempfindlichkeit, Störung des Hirnstoffwechsels samt daraus folgenden Konzentrationsschwierigkeiten, Wortfindungsstörungen, häufiger Schwindel, rasche Erschöpfung. Die psychischen Folgen der körperlichen Leiden: Hilflosigkeit, Wut, Rückzugstendenzen.
Seinen Beruf kann Steinhardt nicht mehr ausüben, seine Vermessungsfirma hat Insolvenz angemeldet – und seine Berufsunfähigkeitsversicherung zahlt bis heute nicht, mehr als fünf Jahre nach dem Unfall.
Nach Berechnungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin haben jedes Jahr acht Millionen Menschen in Deutschland einen Unfall – ein Zehntel der Bevölkerung. Sie verletzen sich bei der Arbeit, in der Schule, im Straßenverkehr, die meisten jedoch – über fünf Millionen – im Haushalt und in der Freizeit. Bagatellunfälle wie ein verstauchter Fuß sind dabei nicht mitgezählt. Mehr als 20.000 der Unfälle enden tödlich.
Die meisten Menschen haben für solche Schicksalsschläge vorgesorgt, für sich selbst und für ihre Angehörigen. Sie haben eine Unfallversicherung abgeschlossen, meist auch eine Berufsunfähigkeitsversicherung; sie haben ihr Leben und ihr Hab und Gut versichert. Oft können sie auch noch Ansprüche gegen die Haftpflichtversicherung desjenigen geltend machen, der den Unfall verschuldet hat. Die Menschen in Deutschland konnten lange Zeit darauf vertrauen, dass sie sich wenigstens um ihre materielle Existenz keine Sorgen machen müssen, wenn sie durch einen Unfall aus der Bahn geworfen werden – oder auch durch eine Krankheit.
Versicherer locken erst und verweigern sich dann
Die Versicherungen haben es verstanden, den Menschen dieses Gefühl der Geborgenheit einzupflanzen. Lange Zeit setzte die Branche in ihrer Selbstdarstellung nicht auf Fakten und Informationen, sondern auf Emotionen. „Denn wer sich Allianz-versichert, der ist voll und ganz gesichert, der schließt vom ersten Augenblick ein festes Bündnis mit dem Glück“, so lautete ein bekannter Slogan; er wurde nicht gesprochen, sondern wie eine Schnulze gesungen.
Die Hamburg-Mannheimer ließ über 35 Jahre ihren Herrn Kaiser bei den Menschen an der Haustür klingeln, den Aktenkoffer immer in der linken Hand, die rechte Hand frei für den sympathisch-festen Händedruck. Vor drei Jahren trat Deutschlands bekanntester Versicherungsvertreter ab, nachdem die Hamburg-Mannheimer im Ergo-Konzern aufgegangen war – in jenem Unternehmen, von dem bald darauf bekannt wurde, dass es seine 100 besten Versicherungsvertreter sowie hohe Manager zu einer Sexparty mit Prostituierten nach Budapest eingeladen hatte.
Solche Nachrichten passen zum Gebaren der Versicherungen von heute. Sie versuchen gar nicht mehr, den Anschein zu erwecken, als seien sie die Verbündeten ihrer Kunden. Sie wollen um jeden Preis Verträge abschließen – und locken ihre Kunden mit möglichst günstigen Beiträgen. Wenn dann tatsächlich eine jener Katastrophen eintritt, vor deren Folgen sich die Klienten schützen wollten, verhalten sich die Versicherungen immer häufiger wie im Fall des Vermessungstechnikers Uwe Steinhardt: Sie verzögern und verweigern Zahlungen, unterstellen den Klienten Betrug und erfüllen ihren Teil des Vertrags erst, wenn sie gerichtlich dazu gezwungen werden. Für viele Unfallopfer beginnt so neben einer langwierigen Rehabilitation auch noch ein zermürbender Kampf mit ihrem Versicherer und der Justiz.
„Selbst Versicherungen, die früher einmal kundenfreundlich waren, verweigern jetzt immer häufiger die Auszahlung“, sagt Michael Wortberg von der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz in Mainz. Die Fusionen, die es in den vergangenen Jahren in der Versicherungswirtschaft gab, haben seiner Meinung nach den Wettbewerb verschärft und die Sitten verrohen lassen.
Viele altehrwürdige Namen sind verschwunden. Neben der Hamburg-Mannheimer befinden sich heute auch die Viktoria-Versicherung, die D.A.S.-Rechtsschutzversicherung und die DKV Deutsche Krankenversicherung unter dem Dach von Ergo.
Die alte Colonia-Versicherung gehört inzwischen zum französischen Axa-Konzern, ebenso die DBV Winterthur und die Deutsche Ärzteversicherung. Axa ist der größte Versicherungskonzern der Welt und gilt als besonders geizig. Die Branche steht unter einem enormen Spardruck – weswegen Axa etwa Teile der internen Verwaltung nach Indien und Lettland auslagerte. Von vielen solcher Maßnahmen bekommen die Versicherten nichts mit. Doch wenn ihnen eigentlich eine besonders große Summe zustünde, spüren sie am eigenen Leib, was Kostensenkung bedeutet.
Uwe Steinhardt hatte nicht nur eine, sondern gleich drei Berufsunfähigkeitsversicherungen abgeschlossen – eine kleine bei der Signal Iduna über eine Rente von 86,31 Euro monatlich, eine weitere bei der Alten Leipziger über 517 Euro und eine hohe bei der Debeka über 4390 Euro im Monat. Doch nur eine Versicherung zahlt – die Signal Iduna, mit der kleinsten Rente. Die beiden anderen weigern sich. Die Debeka hat die sogenannte Leistungsprüfung übernommen – ihre Sachbearbeiter entscheiden, ob Steinhardt einen Schaden erlitten hat, für den die Versicherung aufkommen muss. Die Alte Leipziger hat sich der Leistungsprüfung der Debeka angeschlossen.
Die besten Anwälte arbeiten für die Neinsager
Uwe Steinhardt wohnt mit seiner Frau Monika in einem zweistöckigen Einfamilienhaus in Werne im nördlichen Ruhrgebiet. Die drei Kinder sind erwachsen. Nachdem das Krankentagegeld seiner Krankenkasse ausgelaufen war, wurde das Geld knapp. Die Eheleute mussten, um das Haus zu halten, ihre Ersparnisse auflösen, die einmal ihre private Altersvorsorge sein sollten. Die obere Etage, wo früher Steinhardts Eltern lebten, haben sie vermietet.
„Sie müssen möglichst früh am Morgen zu mir kommen«, hatte Steinhardt am Telefon gesagt, »da ist meine Konzentration am besten. Nach einer Stunde lässt sie nach, und das werden Sie noch vor mir merken.“ So ist es, nur dass sie schon nach einer halben Stunde nachlässt. Steinhardt, der früher ein passionierter Heimwerker war, sitzt in seinem großen Wintergarten – „eine meiner letzten großen handwerklichen Arbeiten vor dem Unfall“ –, vor ihm ein schwerer alter Holztisch mit Papierstapeln.
Gutachten, Stellungnahmen, Schriftsätze – alles wollte Steinhardt an diesem Vormittag ausbreiten und erläutern. Auf einmal aber beginnt er Sätze, ohne sie zu vollenden; er wiederholt sich, kommt ins Stocken. Sucht in den Stapeln nach einzelnen Papieren und findet sie nicht. Er fängt an zu schwitzen. Am Ende weiß er nicht mehr, was er genau wollte.
Der Mann, der da jetzt den ganzen Tag zu Hause sitze, sei für sie anfangs ein Fremder gewesen, sagt Steinhardts Frau. „Er hat sich äußerlich kaum verändert, aber er ist ein ganz anderer Mensch geworden.“ Früher fuhr ihr Mann Inlineskates und Motorrad, er nahm an Halbmarathonläufen teil und ging segeln. Er engagierte sich in der Kommunalpolitik.
Nichts davon ist geblieben. Und nicht nur sein eigenes Leben, sondern das Leben der ganzen Familie habe der Unfall erschüttert, sagt sie. Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, wollten sie und ihr Mann damals gerade ein Pflegekind aufnehmen. Das Jugendamt hatte schon eines ausgewählt. Nach dem Unfall haben sie das Projekt abgesagt.
Viele alltägliche Dinge tun die Steinhardts heute nicht mehr. Sie geben keine Partys und unternehmen keine Ausflüge mehr mit Freunden, selbst Spaziergänge seien für ihren Mann zu anstrengend. Und über allem schwebe jeden Tag „diese materielle Angst“, sagt Monika Steinhardt. „Ist unsere Existenz gesichert?“ Das schroffe, ablehnende Verhalten der Versicherungen habe ihr „das Urvertrauen genommen“.
Uwe Steinhardt hatte nach seinem Unfall zunächst gar nicht vor, seine Berufsunfähigkeitsversicherungen in Anspruch zu nehmen. Er habe so schnell wie möglich wieder arbeiten wollen, sagt er. Sein Betrieb für Vermessungstechnik habe damals floriert. Mit dem Mineralölkonzern BP habe er kurz vor dem Unfall die Vereinbarung getroffen, künftig alle Tankstellen des Konzerns zu vermessen. „BP hatte damals 2600 Tankstellen in Deutschland“, sagt er. Steinhardt hatte schon Lehrgänge bei BP absolviert.
Bei einer der vielen Untersuchungen nach dem Unfall, in der Klinik für Wirbelsäulen-, Gelenkleiden und Schmerztherapie in Hamm, erzählt Steinhardt, sei ihm aber bewusst geworden, dass er schlimmer getroffen war, als er dachte. Der Chefarzt las die Patientenakte und sagte: „Sie sind also wegen der Rente da.“ Offenbar war für den Arzt klar, dass einer wie Steinhardt nicht mehr arbeiten könne und nun Unterlagen für seine Berufsunfähigkeitsrente brauchte. In den Monaten darauf musste Steinhardt sich eingestehen, dass der Chefarzt recht hatte. Es war einfach unmöglich, in diesem Zustand zu arbeiten. Er hatte ständig starke Rückenschmerzen, ihm wurde schwindlig, er sah Doppelbilder.
So hält die angesehene Debeka ein Unfallopfer hin
Rund zwei Dutzend Fachärzte und Gutachter hat Steinhardt im Lauf der Jahre aufgesucht, zum Teil von ihm selbst ausgewählte, zum Teil von der Versicherung bestimmte. Steinhardt ließ sich unter anderem im Institut für Biomechanik und Orthopädie der Deutschen Sporthochschule in Köln untersuchen, stellte sich bei einem HNO-Spezialisten in Soltau vor, bei einem Augenfacharzt in der Universitätsklinik in Tübingen, bei einem Professor für Neurologie in Dortmund, bei einem Nuklearmediziner im Klinikum Esslingen, im Osteopathie-Zentrum in Unna, bei einem Psychologen in Erlangen.
In den ersten Jahren hat die Debeka Uwe Steinhardt nur hingehalten, seine Berufsunfähigkeit weder abgelehnt noch anerkannt. Sie verschleppte die Entscheidung, forderte immer neue Gutachten und schickte ihn zu immer weiteren Ärzten. Reichte Steinhardt von ihm in Auftrag gegebene Gutachten ein, erkannte die Versicherung sie nicht an. Die Gutachter, die sie selbst beauftragte, sagt Steinhardts Anwalt Frank Vormbaum, hätten seinem Klienten durchgehend „Aggravation“ vorgeworfen.
So nennt man in der Psychologie „das bewusst übertriebene Betonen vorhandener Krankheitssymptome aufgrund von vermehrter Selbstbeobachtung“. Mit dieser Begründung lehnte die Debeka auch die Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente ab. Es gebe „keine plausible Erklärung für die von Herrn Steinhardt angegebenen Beschwerden und Beeinträchtigungen“, bekräftigt die Debeka-Pressestelle schriftlich. Zum Gespräch war kein Verantwortlicher der Versicherung bereit.
Steinhardt stellte die Debeka daraufhin auf die Probe und beantragte vor zwei Jahren den Abschluss einer neuen Berufsunfähigkeitsversicherung. Wenn die Versicherung alle seine Beschwerden für eingebildet halte, sagte er sich, könne sie ihn ja erneut versichern.
Doch die Debeka wies das Ansinnen ab. „Bei Ihrem Antrag mussten wir berücksichtigen, dass nach Ihren eigenen Angaben nicht unerhebliche Folgen des im Jahr 2007 erlittenen Unfalls bestehen“, beschied sie Steinhardt. „Deshalb müssen wir Ihren Versicherungsantrag ablehnen.“
Steinhardt hat die zwei zahlungsunwilligen Versicherungen inzwischen verklagt, vor dem Landgericht Dortmund ziehen sich die beiden Verfahren hin. Sein Anwalt Vormbaum sieht den Grund für die hartnäckige Weigerung der Debeka in der außergewöhnlich hohen Rentensumme von über 4.000 Euro im Monat: „Die kämpfen mit allen Mitteln, um das nicht zahlen zu müssen.“ Die meisten Berufsunfähigkeitsrenten lägen zwischen 1.000 und 1.500 Euro.
Auch mit der Haftpflichtversicherung des Opel-Fahrers, der LVM Versicherung, schlägt sich Steinhardt nach wie vor herum. Im Verfahren vor dem Landgericht Arnsberg geht es darum, ob Steinhardts Verletzungen von dem Tankstellenunfall herrühren und ob ihm Schadensersatz und Schmerzensgeld zustehen.
Am Landgericht Frankfurt schließlich ist Steinhardts Klage gegen den Axa-Konzern anhängig, bei dem er eine Unfallversicherung abgeschlossen hat. Der Konzern habe nur einen Teil der Schädigungen anerkannt und ihm deshalb nur einen Teilbetrag von 90.000 Euro ausbezahlt, sagt Steinhardt. Er fordert die volle Versicherungssumme von knapp 500.000 Euro.
Opfer verbünden sich mit Ärzten, Psychologen und Anwälten
Steinhardts Anwalt Vormbaum arbeitet bei Subvenio mit, einem gemeinnützigen Verein in Düsseldorf. Die ehemalige Webdesignerin Stefanie Jeske hat ihn vor vier Jahren gegründet, nachdem sie selbst durch einen Unfall arbeitsunfähig wurde. Ihr kommt es vor allem darauf an, Netzwerke von Experten aufzubauen, die Unfallopfern schnell helfen können.
Viele Opfer seien traumatisiert und brauchten rasche Hilfe, sagt sie. Jeske vermittelt Traumapsychologen, Ärzte aller Fachrichtungen und Rechtsanwälte. Unternehmen unterstützen ihren Verein. Ein Immobilienhändler überließ Subvenio kostenlos eine ganze Flucht von Büroräumen. Inzwischen vermittele die Polizei Unfallopfer an den Verein, sagt Jeske.
Anwalt Vormbaum hält bei Subvenio Vorträge über Versicherungsrecht, auch für Verbraucherzentralen arbeitet er. Es gebe viel zu wenige Juristen, die sich mit den Rechten von Versicherungsnehmern auskennten, sagt er. So hätten Versicherungen oft leichtes Spiel, wenn sie Ansprüche abwehren wollten.
Dass Versicherungen Zahlungen ablehnten, sei nicht mehr die Ausnahme, sondern inzwischen die Regel, klagen Verbraucherschützer, Rechtsanwälte und Selbsthilfegruppen. Auf Internetplattformen wie Captain HUK und www.unfallopfer.de tauschen sich Betroffene aus, werden wichtige Grundsatzurteile für Geschädigte veröffentlicht und Fachanwälte vermittelt.
Professor Hans-Peter Schwintowski, Rechtswissenschaftler an der Humboldt-Universität Berlin, außerdem Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Bund der Versicherten, schätzt, dass bei Berufsunfähigkeitsversicherungen 30 bis 60 Prozent der Fälle nicht anerkannt werden. Doch nur in etwa zwei bis drei Prozent wehrten sich die Versicherten juristisch gegen die Ablehnung, sagt er. Nur wenige hätten eine Rechtsschutzversicherung. Die meisten schreckten vor den hohen Prozesskosten zurück, die schnell sechsstellige Summen erreichen könnten. Viele stürzten in Armut und endeten bei Hartz IV.
Beatrix Hüller hat sechs Jahre lang bei einer Versicherung im Rhein-Main-Gebiet als Schadensreguliererin und Referentin gearbeitet, bei einem Unternehmen mit über hundertjähriger Tradition und gutem Ruf, das heute ebenfalls zu einem großen Konzern gehört. Die Bearbeitung von Schadensfällen hat die Juristin dort von der Pike auf gelernt. „Ich war im Bereich Unfall- und Berufsunfähigkeitsversicherungen eingesetzt, ich habe Gerichtsprozesse begleitet, mit den Anwälten und den Ärzten der Versicherung zusammengearbeitet“ – kurzum: Sie hat gelernt, alle Register zu ziehen, wenn es darum ging, Ansprüche von Versicherten abzuwehren. Keine Schikane war ihr fremd. Sie musste abgebrüht sein, so sieht sie sich im Rückblick selber.
Zum Umdenken gebracht habe sie der Fall eines todkranken Mannes, eines Familienvaters mit einer jungen Frau und einem kleinen Kind, sagt Hüller. Es habe kein Zweifel daran bestanden, dass der Mann sterben würde. Und trotzdem habe sie die Auszahlung der Berufsunfähigkeitsrente blockiert, auch dann noch, als die Ehefrau weinend anrief und sie anflehte. Sie habe dann vom Hausarzt ein weiteres Attest verlangt, obwohl schon eines vorgelegen habe. Sie wollte Zeit schinden, obwohl der Versicherte nicht mehr lange zu leben hatte.
Heute arbeitet Beatrix Hüller als Fachanwältin für Versicherungsrecht in Bonn. Sie vertritt ausschließlich Versicherungsopfer. Wer ihre Kanzlei betritt, wird zuerst von ihrem Hund Cassius begrüßt, einer Mischung aus Labrador und Pudel. Der Hund ist ein wichtiger Mitarbeiter. „In diesen Räumen wird viel geweint, wenn die Klienten ihre Geschichten erzählen“, sagt Hüller. Dann kommt Cassius als Tröster zum Einsatz, er legt seine Schnauze auf die Knie der Mandanten und beruhigt sie.
Einen Lobbyisten plagt das schlechte Gewissen
Bei Unfallversicherungen sei es die Regel, dass Ansprüche abgeschmettert würden, sagt Hüller. „Das sind Massenversicherungen, fast jeder hat eine. Da haben wir die Ablehnungen nicht mehr individuell geschrieben. Wir hatten Textbausteine, ungefähr 30 verschiedene, die miteinander kombinierbar waren.“ Die Unbeholfenheit vieler Versicherter, die ihr Anliegen schlecht ausdrücken könnten, sei „gnadenlos ausgenutzt worden“, sagt Hüller. „Vor allem die Berufsunfähigen haben oft kognitive Störungen und kriegen keine Schilderung hin, die sind psychisch angeschlagen.“ Ihr und den anderen Sachbearbeitern sei es nicht darum gegangen, einem Verunglückten möglichst schnell zu helfen, sondern allein um die Frage: „Wie krieg ich das Ding vom Tisch?“ – und zwar ohne dass das Unternehmen zahlen muss.
Heute betreut Beatrix Hüller 1.100 laufende Verfahren. In ihrem Auto fährt sie kreuz und quer zu Gerichtsverhandlungen in ganz Deutschland, Cassius auf dem Rücksitz. Sie ist Tag und Nacht und am Wochenende für ihre Klienten erreichbar. „Ich habe das Gefühl, ich muss etwas wiedergutmachen“, sagt sie.
Auch Bernd Matthias Höke hat jahrelang für eine Versicherung gearbeitet. Er war kein einfacher Schadensregulierer, er war Schadenschef der Signal-Iduna-Versicherung. Zugleich saß er im Vorstand der Adler Versicherung, außerdem leitete er die Kraftfahrt-Schadenkommission im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, und er war Vizepräsident des Instituts für Europäisches Verkehrsrecht.
Ein einflussreicher Lobbyist, der in der Branche geachtet war – und der vor zwei Jahren die Seiten gewechselt hat. „Ich habe es mit meinen Überzeugungen nicht mehr vereinbaren können, wie Versicherungen mit Unfallopfern umgehen“, erklärt er seinen radikalen Schritt.
Der Jurist Höke ist jetzt einer von zwei Geschäftsführern in der auf Automobil- und Verkehrsrecht spezialisierten Münchner Anwaltskanzlei Voigt Rechtsanwalts GmbH. Sie hat Niederlassungen in ganz Deutschland, Höke will das Netz weiter ausbauen. Vor allem bei den kostspieligen Personenschäden herrsche „ein großes Gefälle“, was die Kompetenz der Versicherungsanwälte und der Opferanwälte angehe, sagt Höke. „Die Profis sitzen immer aufseiten der Versicherungen.“ Er will dazu beitragen, Waffengleichheit herzustellen.
Eine schwierige Mission, denn die Konzerne haben ihren Einfluss institutionalisiert. Anwälte, die sich im Versicherungsrecht weiterbilden wollen, können Schulungen bei großen Versicherungen buchen. Auch mit medizinischen Gutachtern arbeiten sie eng zusammen, die sie bei Schadensfällen beauftragen und von denen sie Beurteilungen zu ihren Gunsten erwarten dürfen. Manche dieser Gutachter haben sich inzwischen in regelrechte Zuliefererfirmen mit mehreren Filialen verwandelt und sind zum Teil schon gerichtsbekannt wie das Orthopädische Forschungsinstitut des Professors Dr. med. William-Hubertus M. Castro mit acht Niederlassungen von Hamburg bis München.
Kunden leiden unter dem Konkurrenzkampf der Versicherer
So schrieb das Landgericht Kiel, noch bevor es in einem Versicherungsfall die Verhandlung eröffnet hatte, vorsorglich an einen der beteiligten Anwälte: „Bereits jetzt wird darauf hingewiesen, dass das Gericht keine Entscheidung treffen wird, die auf einem Gutachten von Prof. Castro ... vom Orthopädischen Forschungsinstitut ... beruht, weil dessen Feststellungen in anderen Prozessen des Gerichts mit den tatsächlichen Gegebenheiten und den Feststellungen anderer Ärzte bzw. eines neutralen Gutachters nicht in Einklang zu bringen waren und dabei jeweils zum Nachteil des Geschädigten und zum Vorteil der in Anspruch genommenen Versicherung ausfielen.“ Die nächsthöhere Instanz, das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht, habe diese Ansicht bestätigt, ergänzte das Landgericht noch.
Für ein einfaches Gutachten ohne Röntgen erhält ein Arzt zwischen 500 und 800 Euro Honorar. Ist ein MRT oder CT mit eingeschlossen, kann es leicht auf 2.000 bis 3.000 Euro steigen.
Auch die Fortbildung für Mediziner, die der Rückversicherer Gen Re „in Kooperation mit der Universität zu Köln“ vor ein paar Jahren zum Thema „Fachärztliche Begutachtung ›Psychiatrie und Psychosomatik‹“ anbot, dürfte nicht neutral gewesen sein. Und wenn juristische Standardwerke, wie es vielfach geschieht, von Versicherungsmanagern geschrieben werden – kann man dann glauben, die Autoren seien nicht interessengeleitet?
Die Grenzen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft verschwimmen, wie im Fall von F. Roland A. Richter. Er ist bei der R+V Versicherung Referent für Grundsatzfragen im Bereich Kfz-Schaden, zugleich Co-Autor des bei Luchterhand verlegten Handbuchs des Fachanwalts Verkehrsrecht – und war bis Ende 2012 Lehrbeauftragter an der staatlichen Hochschule RheinMain in Wiesbaden. Oder Gerhard Küppersbusch, langjähriger Leiter der Schadensabteilung der Allianz-Versicherung: Er ist Autor des bei C. H. Beck erschienenen Standardwerks Ersatzansprüche bei Personenschaden.
Die harte Gangart der Versicherungen erklärt der Ex-Manager Höke mit der Deregulierung, die branchenweit in den neunziger Jahren eingesetzt hat. Im Grunde ging die beschauliche Versicherungswelt des netten Herrn Kaiser von der Hamburg-Mannheimer schon damals unter. Der bis 1994 geschlossene deutsche Markt musste sich auf Beschluss der EU öffnen. Seither dürfen auch ausländische Unternehmen Policen in Deutschland anbieten. Zugleich fiel die staatliche Aufsicht weg. Bis dahin hatte das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen einheitliche Geschäftsbedingungen festgelegt.
Jeder Tarif, jede Prämie und sogar die Gewinnmargen mussten genehmigt werden. Das Amt gibt es nicht mehr, heute überwacht die Versicherungen die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Sie darf aber nicht mehr einzelne Tarifbedingungen regeln, das ist jetzt Sache des Wettbewerbs. Nur wenn eine Versicherung neue Bedingungen einführt und sich Kunden darüber beschweren, kann die BaFin noch eingreifen.
Seither versuchten die Unternehmen einander mit immer niedrigeren Prämien zu unterbieten, sagt Höke. Deshalb seien etliche von ihnen ins Defizit gerutscht, und deshalb verhielten sie sich im Schadensfall oft so unnachgiebig und trickreich. Er ist der Meinung: Versicherungen sind zu billig geworden, eigentlich müssten die Kunden höhere Prämien zahlen.
Ein Vertreter plaudert aus dem Nähkästchen
Die Wirtschaftskrise hat die Lage noch verschärft. Seitdem, sagt Höke, könnten die Versicherungen ihre geringeren Einkünfte aus den Prämienzahlungen schlechter durch Geldanlagen ausgleichen. Damit ihre Bilanzen erfreulicher aussehen, hätten die Konzerne ihre Reserven und Rücklagen abgeschmolzen – Reserven, die sie eigentlich für große Schadensfälle gebildet haben und die nun fehlen.
Und die nächste Verschärfung kündigt sich schon an: Anfang 2015 treten strengere, von der EU-Kommission beschlossene Vorschriften zur Risikovorsorge in Kraft. Große Konzerne wie Axa, die Allianz oder Generali müssen dann höhere Rückstellungen bilden – nicht in Millionen-, sondern womöglich in Milliardenhöhe. Die neue Regelung soll eigentlich die Verbraucher schützen. Höhere Rücklagen können Versicherungen aber nur bilden, wenn sie bei den Ausgaben geizen – also bei der Schadensregulierung.
Manchmal hat Johannes Keller* das Gefühl, dass auch er ein Opfer der Versicherungsbranche ist, obwohl er selbst zum System gehört. Keller sitzt in seinem Ladenlokal an einer viel befahrenen Hauptverkehrsstraße und weiß immer weniger, welche Versicherungen er seinen Kunden noch guten Gewissens verkaufen kann. In den neunziger Jahren hat er sich hier, in einer westdeutschen Großstadt, als Versicherungsmakler selbstständig gemacht.
Berufsunfähigkeitsversicherungen mit einer Rente von mehr als 2.000 Euro im Monat schließe er nicht mehr ab, sagt er. Aus Erfahrung wisse er, dass die Versicherung im Schadensfall nicht zahlen werde: „Will ein Kunde eine Berufsunfähigkeitsrente von mehr als 2.000 Euro, sage ich immer: Da können Sie im Schadensfall gleich mit Rechtsanwalt auftauchen.“ Er empfehle bei höheren Versicherungssummen, mehrere Verträge bei verschiedenen Anbietern abzuschließen.
Nur noch selten zahlten Versicherungen bei einem Schaden anstandslos, sagt Keller. „Alles, was über 10.000 Euro liegt, bringen die zum Prozess.“ Einige Versicherungen hat der Makler wegen ihrer schlechten Zahlungsmoral gar nicht mehr im Angebot. Den Axa-Konzern zum Beispiel, der sei ihm zu aggressiv. Oder den Ergo-Konzern, das sei ein „Chaotenladen“.
Viele Verträge kämen auch nicht zustande, weil die Angestellten in den Konzernen überfordert seien und Anträge wochenlang liegen ließen. Kellers bittere Erfahrung: „Wir Makler haben es nicht mehr mit Versicherungskaufleuten zu tun, sondern mit nicht ausgebildetem Callcenter-Personal.“ Die großen Konzerne, deren Produkte er verkauft: Selbst für den Fachmann sind sie ein dichter, undurchdringlicher Dschungel.
Im Fall des achtjährigen Jeremy aus Neumünster in Schleswig-Holstein geht es nicht nur um 10.000 Euro, sondern um mindestens das Hundertfache, eine Million Euro. So viel fordert Jeremys Familie für das Unglück, das ihrem Jungen widerfuhr. Die Versicherung, der HDI-Gerling-Konzern in Hannover, sperrt sich seit fast sechs Jahren mit aller Härte dagegen, zu zahlen.
Jeremys Leidensgeschichte beginnt am 28. März 2007, einem sonnigen Frühlingstag. Der damals zwei Jahre alte Junge fühlt sich nicht wohl. Schon am Morgen wirkt er lustlos, will nichts essen. Am Mittag hat er hohes Fieber, über 40 Grad. Der Fiebersaft, den seine Mutter ihm gibt, hilft nicht wie sonst. Am Nachmittag erbricht er sich mehrmals, seine Windel bleibt trocken, den ganzen Tag über.
Um 18 Uhr fahren Jeremys Mutter, die im fünften Monat schwanger ist, und die Oma mit dem Jungen in die Notfallpraxis der örtlichen Kinderklinik. Jeremy habe weder sitzen noch liegen können, sagt Jeremys Mutter Kerrin Niels. Bei jeder Berührung des Kopfes habe er geschrien. Der diensthabende Arzt vermutet dennoch nur eine Magen-Darm-Grippe und schickt die Familie mit einem Rezept für Fieberzäpfchen und ein Mittel gegen Erbrechen nach Hause. Keine fünf Minuten habe die Untersuchung gedauert, sagt Jeremys Mutter. Der Arzt habe ihr gar nicht richtig zugehört.
Wieder zu Hause, bringt sie Jeremy zu Bett, nachdem sie ihm die Medikamente gegeben hat. Am nächsten Morgen fallen den Eltern blaue Flecken auf Jeremys Haut auf. Sie rufen den Notarzt; als der eintrifft, ist der Junge bewusstlos. Jeremy muss künstlich beatmet werden, wird in die Kinderklinik Neumünster gebracht. Dort diagnostizieren die Ärzte eine schwere Sepsis, ausgelöst durch eine nicht erkannte Meningitis. Mit anderen Worten: eine Hirnhautentzündung, die zu einer Blutvergiftung geführt hat.
Die großen Leiden des kleinen Jeremy
Jeremy schwebt in akuter Lebensgefahr. Er kommt auf die Intensivstation und wird in ein künstliches Koma versetzt. Nach knapp zwei Wochen wird er in die Universitätsklinik Lübeck verlegt. Dort kämpfen die Ärzte zwei Monate lang um Jeremys Leben. Am ganzen Körper haben sich sogenannte Nekrosen gebildet, absterbendes Gewebe, das sich schwarz verfärbt. Betroffen sind vor allem die Extremitäten – Zehen, Finger, Ohren, Nase. 15-mal muss Jeremy operiert werden.
Erst werden die Vorfüße amputiert und einzelne Fingerglieder, doch die Nekrosen wuchern weiter, immer großflächiger müssen die Ärzte operieren, immer mehr Haut muss transplantiert werden. Am Ende sind beide Beine bis über die Knie amputiert, von den Fingern bleiben nur verschieden lange Stümpfe. Über Monate quälen Jeremy Phantomschmerzen, er schreit nächtelang.
Jeremys Großvater väterlicherseits, Uwe Peters, ein 73 Jahre alter ehemaliger Journalist, hat das Schadensmanagement für seinen Enkel in die Hand genommen. Ihm schießen Tränen in die Augen, wenn er von Jeremys Leiden erzählt. Als die Großeltern ihren Enkel zum ersten Mal im Uni-Klinikum in Lübeck besuchten, traf sie fast der Schlag: „Da lag ein kleines, weißes Bündel, verbunden wie eine Mumie. Man sah nur die Augen.“
Anfangs sei die ganze Familie wie gelähmt gewesen, sagt Peters, doch nach dem Schock sei die Wut gekommen – Wut auf den diensthabenden Arzt, der Jeremys Schicksal hätte verhindern können. Und dann: Wut auf die Versicherung, die Jeremy nicht für sein Leiden entschädigen will. Hätte der Arzt damals Jeremys Blut untersucht, glaubt die Familie, wäre die Meningitis früher erkannt und in ihrem Verlauf abgemildert worden. Die Amputationen hätten wahrscheinlich vermieden werden können. Wieder und wieder kreisen die Gedanken der Familie um diese Frage: Warum hat der Arzt trotz Jeremys schlimmem Zustand die Blutuntersuchung unterlassen? Es wäre reine Routine gewesen, alle notwendigen Einrichtungen für einen schnellen Befund hätten dem Arzt in der Klinik zur Verfügung gestanden.
Gleich mehrere ärztliche Gutachten bestärken die Familie in ihrer Auffassung. Dass der Arzt damals „sowohl eine weitergehende Diagnostik als auch eine stationäre Einweisung des Patienten unterließ, stellt einen unverständlichen Behandlungsfehler dar“, schreibt ein Arzt.
Jeremys Großvater hat den auf Arzthaftungsrecht spezialisierten Anwalt Frank Albert Sievers aus Hannover engagiert. Fast zwei Jahre lang hatte der versucht, sich mit der Haftpflichtversicherung des Kinderarztes, dem HDI-Gerling-Konzern, außergerichtlich zu einigen – ohne Erfolg. 2010 reichte er schließlich Klage ein. Die Versicherung lehnt die medizinischen Gutachten als Parteigutachten ab, der Arzt habe damals alles richtig gemacht, meint sie. Zum Interview ist das Unternehmen jedoch nicht bereit, solange das Verfahren noch nicht abgeschlossen sei, teilt die Pressestelle schriftlich mit.
„Die Zeit arbeitet für die Versicherung“, sagt Anwalt Sievers. Bei einer so hohen Summe wie in Jeremys Fall bringe ihr allein die Verschleppung der Zahlung einen immensen Zinsvorteil. Der Anwalt fordert ein Schmerzensgeld von mindestens 500.000 Euro und eine Schmerzensgeldrente von 500 Euro – Monat für Monat, bis an Jeremys Lebensende. Außerdem einen Schadensersatz, der „alle materiellen und immateriellen Schäden“ Jeremys abdeckt.
Die Beziehung von Jeremys Eltern hat dem Schicksalsschlag nicht standgehalten, sie haben sich in Frieden getrennt. Jeremy lebt bei seiner Mutter, zusammen mit seinem jüngeren Bruder und der älteren Schwester. Als alleinerziehende Mutter dreier Kinder, die von Hartz IV lebt, sagt Kerrin Niels, hätte sie nie die Energie und das Selbstbewusstsein aufgebracht, die Versicherung zu verklagen. Sie ist ihrem Schwiegervater dankbar, dass er diesen Kampf aufgenommen hat.
Gewonnen! Doch der Versicherer HDI Gerling bleibt hart.
Jeremy besucht inzwischen die zweite Klasse einer Förderschule in Kiel, er wird jeden Tag mit einem Spezialbus geholt und gebracht. Solange sich der HDI-Gerling-Konzern weigert, zu zahlen, trägt die AOK die Kosten von Jeremys Betreuung. Die Krankenkasse hat sich der Klage gegen die Versicherung angeschlossen.
Wenn Jeremy aus der Schule kommt, ist er meist schon von Weitem zu hören. Er hat eine laute Stimme und einen oft fordernden Ton. Je älter er werde, desto stärker werde ihm bewusst, sagt seine Mutter, was er alles nicht könne im Vergleich zu anderen Kindern.
Zum Beispiel kann er auch mit acht Jahren noch nicht allein zur Toilette gehen, er kann auf der Klobrille die Balance nicht halten, deshalb trägt er immer noch Windeln. Nach wie vor hat Jeremy starke Schmerzen. Mehrmals musste er nachoperiert werden. Die Knochen der amputierten Beine wachsen schneller, als die vernarbte Haut sich dehnt; sie müssen daher immer wieder gekappt werden, damit sie die Haut nicht durchstoßen.
Betritt er die Wohnung, wirft Jeremy als Erstes seine Prothesen in die Ecke, seine Beinstümpfe schmerzen. Flink robbt er auf den Händen über den Fußboden und zieht dabei seinen Rumpf nach, der in einer Jeans steckt. Der Fußboden ist Jeremys Welt, sagt sein Opa.
Jeremys liebster Ort ist der Ostseestrand. Stundenlang wühlt er im Sand. Manchmal bleiben andere Kinder stehen, starren ihn an und rufen: „Du hast ja gar keine Beine!“ Dann ruft Jeremy zurück: „Klar hab ich Beine! Die stehen zu Hause, und die sind steinhart!“
Jeremys Großvater hat bei der Fernsehübertragung der Paralympics im vergangenen Sommer zum ersten Mal Läufer mit computergesteuerten Prothesen gesehen. Solche solle Jeremy auch bekommen, findet der Großvater, der für Jeremy schon seine Altersvorsorge angetastet hat.
Er hat die vier Gutachten fürs Gericht bezahlt und das Honorar für den Anwalt, alles zusammen ein hoher fünfstelliger Betrag. Das Geld wird nicht ewig reichen – und computergesteuerte Prothesen kosten rund 20.000 Euro.
In einem juristischen Schriftsatz steht über Jeremy zu lesen: „Es handelt sich um die Schwerstschädigung eines zum Zeitpunkt des Geschehens 27 Monate alten Kindes mit Schwerstfolgen, den Verlust beider Beine, der Fingerendglieder, schwersten Nekrosen und Vernarbungen mit Hauttransplantationen an verschiedenen Gliedern mit der Folge, dass das Kind sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen kann. Es ist davon auszugehen, dass das Kind nicht in das Erwerbsleben eingegliedert werden kann und Zeit seines Lebens Pflegemehrbedarf bei voller Pflegebedürftigkeit hat.“
Das Schreiben stammt nicht von Jeremys Anwalt, es stammt vom Anwalt des HDI-Gerling-Konzerns. Die Mitarbeiter der Versicherung sind sich also vollkommen bewusst darüber, wie groß Jeremys Leiden ist. Das Landgericht Kiel hat Jeremy im August 2012 grundsätzlich das Recht auf Schmerzensgeld und Schadensersatz zuerkannt, ohne über die Höhe zu entscheiden. Die Versicherung hat Berufung eingelegt.
* Name von der Redaktion geändert