Brexit: Theorie und Praxis liegen weiter auseinander als London und Brüssel
Ist es eine gute Nachricht, dass im britischen Unterhaus eine Abstimmung mal eine Mehrheit gefunden hat? Man könnte denken ja, aber Theorie und Praxis sind eben zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Am Dienstag-Abend billigte eine knappe Mehrheit von 317 zu 301 Stimmen einen Antrag des einflussreichen konservativen Hinterbänklers Graham Brady. Dieser fordert, dass die von der EU verlangte Garantie für eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland (Backstop) aus dem Brexit-Abkommen entfernt wird
Und jetzt?
Die Theorie hört sich einfach an. Der Antrag wurde beschlossen und jetzt ist Theresa May an der Reihe. Die setzt sich mal wieder in einen Flieger Richtung Brüssel und verhandelt ein wenig nach und dann ist die Klausel aus dem Brexit-Vertrag entfernt. Wäre das so einfach, dann könnte Großbritannien wahrscheinlich schon morgen der EU Adieu sagen. Kommen wir zur Praxis: Schon seit der ersten historischen Niederlage im britischen Unterhaus haben alle Spitzen der EU betont, dass der bereits ausgehandelte Deal wenig Spielraum für Nachverhandlungen biete. Warum ist der Backstop ein Problem für das britische Unterhaus?
Hintertürchen in die EU?
Der sogenannte Backstop sieht vor, dass ganz Großbritannien in der Zollunion mit der EU bleibt und Nordirland zudem teilweise im EU-Binnenmarkt, bis eine bessere Lösung gefunden ist. Die Brexit-Hartliner halten dies für einen Trick der EU und befürchten, dass es keine bessere Lösung gibt und somit Großbritannien bis auf weiteres an die EU gebunden ist. Ein wirklicher Brexit würde ihrer Meinung nach nie stattfinden.
Warum beharrt die EU auf den Backstop?
Vor allem das EU-Mitglied Irland will eine harte Grenze zum britischen Nordirland auf keinen Fall riskieren. Eine Teilung der Insel könnte neue politische Gewalt in der ehemaligen Bürgerkriegsregion heraufbeschwören – ein Bombenanschlag im nordirischen Londonderry schien zuletzt wie ein düsterer Vorbote. Grenzkontrollen und Schlagbäume widersprächen zudem dem Karfreitagsabkommen von 1998, für das Großbritannien und die EU gemeinsam eine Garantie abgegeben haben.
Gibt es eine Lösung für das Problem?
Eher nicht. Es wird zwar gerne der Begriff „alternative Regelung“ verwendet, aber es gibt bislang keinen einzigen Vorschlag, wie diese „alternative Regelung“ aussehen könnte. Somit wird zwar viel geredet, einen wirklichen Kompromiss, der für beiden Seiten akzeptabel sein könnte, gibt es aber eben nicht. Auch schwierig bei den einzigen Varianten offene oder geschlossene Grenze.
Wie geht es jetzt weiter?
Beide Seiten betonen zwar immer, dass ein „harter“ Brexit vermieden werden sollte, aber wirklich Bewegung ist nicht in der Sache und die Zeit bis zum 29.03 wird immer kürzer. Jetzt möchte May erst einmal weiter verhandeln. Noch am Mittwoch wollte sich May mit Oppositionschef Jeremy Corbyn von der Labour-Partei treffen, um über den weiteren Brexit-Kurs zu entscheiden. Auch Telefongespräche mit EU-Ratspräsident Donald Tusk und dem irischen Premierminister Leo Varadkar waren geplant. Auch Jean-Claude Junker will die Flinte noch nicht ins Korn werfen.
Trotz der verfahrenen Lage beim Brexit hält EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker eine gütliche Trennung von Großbritannien immer noch für möglich. „Ich bin von Natur aus Optimist“, sagte Juncker am Mittwoch im Europaparlament. „Das führt mich dazu anzunehmen, dass es eine Einigung mit Großbritannien geben kann und geben wird. Wir werden Tag und Nacht daran arbeiten, dass es so kommt.“
Solange die Märkte auch noch daran glauben, ist das Problem noch nicht ganz so heiß. Sollten die Aktienmärkte allerdings in Panik verfallen, dann sollten sich beide Seiten schleunigst um eine gütliche Einigung bemühen. Horror-Szenarien zum „harten“Brexit gibt es nämlich schon zu viele.
Von Markus Weingran/dpa-AFX
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