Der Pate vom Niederrhein

HANDELSBLATT · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Den Kopf leicht nach hinten geneigt blinzelt er in die Nachmittagssonne. Der sonst akkurat gezogene blonde Scheitel ist vom Wind leicht zerzaust. Ein schräges Lächeln zeichnet sich auf Ronald Pofallas müdem Gesicht ab. Er ist weit gereist. Der Chef des Bundeskanzleramtes steht auf dem Marktplatz von Rees, einem kleinen Städtchen am Niederrhein. Er schweigt und wartet.

Vielleicht vier Meter hinter ihm haben sich die örtlichen Würdenträger versammelt. Im Kreis angeordnet warten sie ebenfalls, zögern noch, ihn anzusprechen. Stattdessen blicken sie auf Pofallas Rücken, auf ein zerknittertes Jackett. Fast zehn Minuten dauert es, bis einer auf ihn zumarschiert. Als hätte es eine unsichtbare Mauer zwischen Pofalla und dem Rest der lokalen CDU-Oberen gegeben, die nun durchbrochen ist, strömen auch die übrigen Wartenden heran. Ein alter Mann im karierten Sakko stellt sich dazu, er war mal Bürgermeister in Pofallas Heimatort Weeze. Sie umarmen sich. Eine kurze Frage an den Ronald – ja, er kennt ihn schon seit er als Kind durchs Dorf rannte –, eine kurze Antwort, und schon wird der nächste umarmt.

Keiner will den Minister allzu lange stören. Die Stimmung ist freundlich, fast herzlich, dennoch herrscht höfliche Distanz. Sie sind stolz auf ihn, irgendwie auch auf sich selbst. Der Minister aus Berlin, der sonst mit der Kanzlerin den Euro rettet oder die Geheimdienstarbeit verwaltet, er ist auch ihr Bundestagsabgeordneter. Einer von ihnen.

Die Kirchenglocken läuten, die Geschäfte am Marktplatz schließen. Es ist Freitagnachmittag, abseits des Trubels um Ronald Pofalla ist es ziemlich ruhig. Die kleinen gepflasterten Straßen von Rees, die von Bäumen gesäumt werden und an deren Rändern altmodische Straßenlaternen stehen, sind wie leer gefegt. Zwischen zwei Begrüßungen sagt Ronald Pofalla: „Ich bin so gerne hier in meiner Heimat.“ Wenige Kilometer entfernt, in der Gemeinde Weeze, ist er aufgewachsen, zur Schule gegangen, dort hat er seine politische Karriere im Gemeinderat begonnen. Ronald Pofalla kennt diese kleinen Dörfer und Städte am Niederrhein. Er weiß genau, wie er mit den Menschen hier umgehen muss.

„Wissen Sie“, sagt er und beugt sich leicht nach vorne, „ich komme niemals zu spät.“ Die Leute nähmen es übel nehmen, wenn man sie warten ließe. Vor jedem Termin plant er deshalb einen „Puffer von 30 Minuten“ ein. Sein Grinsen wird breiter. „Selbst wenn ich also in einen Stau gerate, bin ich immer noch in der Zeit.“ Er sagt es, als wäre Pünktlichkeit sein kleines Erfolgsgeheimnis, sein Schlüssel zu den Herzen der Bürger. Heute ist er sicherlich 40 Minuten zu früh gekommen. Demonstrativ hat er sich vor dem Bürgerhaus von Rees postiert und wartet auf eine andere Spitzenpolitikerin aus Berlin. Ursula von der Leyen soll den lokalen CDU-Wahlkampf in Pofallas Bezirk, dem Wahlkreis 112, eröffnen. Doch von der Leyen kommt zu spät, eine Viertelstunde. „Dem Ronald wäre das nicht passiert“, sagt einer der CDU-Herren fast wie bestellt.

„Einen der treuesten und besten...“

Die Arbeitsministerin hält später eine kämpferische Rede. Sie spricht über christdemokratische Grundwerte, über Mindestlohn, Mütterrente und Kita-Plätze. Die CDU-Basis ist begeistert. Auch Siegbert Schickert klatscht mit. Der Rentner aus Rees ist vor allem wegen von der Leyen gekommen. „Die ist wirklich gut.“ Und Pofalla? „Der ist auch in Ordnung“, sagt er, „aber an dem stört mich irgendwas.“ So genau weiß er das nicht, „Vielleicht weil der immer ein bisschen steif rüberkommt“, meint Schickert, nicht so „echt“ wie von der Leyen. Gerade setzt sie zum Endspurt an: „Die erste Stimme also für Ronald Pofalla“, schmettert sie, und das Klatschen wird immer lauter. „Einen der treuesten und besten...“, was sie dann sagt, ist nicht mehr zu verstehen. Der Jubel übertönt es.

Wahrscheinlich meinte sie so etwas wie „Ronald Pofalla ist einer der treuesten und besten Mitarbeiter der Kanzlerin.“ Zumindest ist er einer der engsten Vertrauten von Angela Merkel, der Strippenzieher von Schwarz-Gelb. Unter ihrer Ägide stieg er auf. Vom Justiziar der Fraktion wurde er im Jahr 2005 zum Generalsekretär ernannt. Wo die Kanzlerin staatstragend schweigen musste, polterte Pofalla los. Er zeigte, wie fest er zubeißen kann.

Kabarettisten waren ihm dafür dankbar. Die Mischung aus breitem Niederrheinisch und seinem nasalen Tonfall ließ sich leicht persiflieren. Als CDU und FDP 2009 die Mehrheit gewannen, wurde Pofalla zum Minister für besondere Aufgaben. „Es war besser für ihn, dass er aus der Öffentlichkeit erst einmal verschwand“, meint ein Parteifreund. Der Spott habe ihm zugesetzt. Doch er hatte seine Schwierigkeiten vom wohl lautesten Amt der Republik ins leiseste zu wechseln. Viele der Pannen, besonders in den ersten zwei Regierungsjahren, gingen auf sein Konto. Zu laut, zu forsch, zu brachial soll er oftmals vorgegangen sein.

Zwei Jahre lang hörte man fast nichts von ihm, er hatte gelernt, wie man lautlos an den Stellschrauben der Macht dreht. Erst als die NSA-Affäre in diesem Sommer überkochte, blieb ihm keine andere Wahl, als vor den Untersuchungsausschuss des Bundestags zu treten. Den versammelten Journalisten legte er im Anschluss knapp dar, dass eine Ausspähung niemals stattgefunden habe und erklärte die Affäre für beendet. Man solle zu anderen Themen übergehen. Ronald Pofalla verschwand wieder von der Bildfläche.

Interview-Anfragen lehnt sein Büro freundlich ab, der Minister habe zu viele Termine. Wer sich ihm annähern will, muss Ronald Pofalla in seiner Heimat besuchen, weit ab von der Hauptstadt. Seit 19 Jahren ist er Direktkandidat im Kreis Kleve, einem lang gezogenen, zersiedelten Landstrich mit 16 Kommunen und 300.000 Einwohnern, die auf einer Fläche von 1200 Quadratkilometern verstreut sind. Wer vom einen Ende des Kreises zum anderen Ende fahren will, ist über eine Stunde mit dem Auto unterwegs. Man sieht auf dem Weg viel Grün, viel Landwirtschaft, einige Gärtnereien, kleinere Industriebetriebe und unzählige Dörfer. Das ist Stammland der CDU, konservativ und katholisch bis ins Mark. Nie – egal, ob bei Landtags- oder Bundestagswahlen – haben die Christdemokraten hier eine Niederlage einstecken müssen. Auch diesmal sieht es gut aus für Ronald Pofalla, laut einer Hochrechnung soll er 51 Prozent der Erststimmen auf sich vereinen.

„Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen“

Barbara Hendricks kennt diese Zahlen. Genauso lange wie Ronald Pofalla tritt die Sozialdemokratin hier an. An einem Sonntagmittag im August schlendert sie über den Marktplatz von Geldern und sieht sich die Kreidebilder an, die Hobbykünstler auf Gehwege malen. „Das Straßenmalerfest ist eine wirklich schöne Sache“, bemerkt sie. Nur selten wird sie erkannt. Wahlwerbung macht sie hier nicht. „Ich zeige, dass ich da bin. Mehr nicht.“

Barbara Hendricks war Finanzstaatssekretärin, Mitglied im letzten SPD-Schattenkabinett und bekleidet den wichtigen Posten der Schatzmeisterin in ihrer Partei. Erwartungsgemäß verliert sie alle vier Jahre bei den Bundestagswahlen. Doch sie war von Anfang an über die Liste abgesichert, diesmal steht sie sogar auf Platz 2 in Nordrhein-Westfalen, direkt hinter Peer Steinbrück. „Ich könnte der Papst sein und würde hier trotzdem gegen die CDU verlieren“, sagt sie und lacht kurz auf. Den Wahlkampf könnte sie sich schenken. Hier auf dem Land sind die Verhältnisse noch ziemlich klar. Über die Jahre hat sie den „Kollegen Pofalla“ häufig getroffen. „Man kennt sich, aber wir sind keine Freunde“, sagt sie. Anfangs haben sie sich gegenseitig stärker angegriffen. Hendricks sagt, Pofalla sei aggressiver gewesen. „Der Umgang ist heute gelassener. Vor allem nachdem er selbst Karriere gemacht hat, ist er etwas entspannter.“

Wer sich auf Ronald Pofallas Spuren begibt, erfährt von seinen cholerischen Ausbrüchen, von der seltsamen Unbeherrschtheit, die ihn manchmal überkommt. Vor zwei Jahren hat er seinen Fraktionskollegen Wolfgang Bosbach angeschrien, als der sich bei einer Abstimmung verweigerte: „Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen.“ Pofalla entschuldigte sich kurz darauf und für Bosbach war die Sache nach eigenem Bekunden schon aus der Welt, als sie bekannt wurde. Doch der sonst so freundliche Herr Pofalla fiel damals als Rüpel auf, nicht nur die Konservativen in der CDU waren erschrocken. Dabei gibt es ein paar solcher Geschichten. „Was der zu Bosbach gesagt hat, ist noch eine der harmloseren Beleidigungen“, berichtet ein Christdemokrat hinter vorgehaltener Hand. Er soll auch schon Sitzungen der lokalen CDU niedergebrüllt haben, wenn es ihm zu bunt wurde, meint ein anderer.

Schon einmal, 2010, hatte es in seiner Heimat gerumpelt. Damals wollte der Minister eine Kandidatin für den Landtag durchdrücken, es war Ulrike Ulrich, die er schon aus der Zeit bei der Jungen Union kennt. Wo sonst Abstimmungsergebnisse knapp unter der 100-Prozent-Marke üblich sind, machte sich Widerstand breit. Einige CDU-Mitglieder organisierten eine Gegenkandidatin und fuhren Parteimitglieder mit Bussen zur Abstimmung. Pofalla wurde auf offener Bühne ausgebuht. Er soll wutschnaubend abgedampft sein, erzählt ein Beteiligter und attestiert ihm „Machtarroganz.“ Günter Bergmann, Landtagsabgeordneter in NRW und Weggefährte von Ronald Pofalla, widerspricht jedoch: „Man kann mit ihm offen reden und er wird nie ausfallend.“

„Die Mädchen schwärmten damals für ihn“

Ronald Pofalla ist hier, tief im Westen, das unangefochtene Alphatier. Er ist Vorsitzender des mächtigen Regionalverbands Niederrhein, einem der mitgliederstärksten bundesweit, und seitdem Norbert Röttgen sich wegen der verlorenen Landtagswahl 2012 zurückziehen musste, gilt er auch auf Landesebene als feste Größe. Auf den ersten Blick verkörpert Ronald Pofalla alles, wofür die CDU steht: Er ist konservativ, ein Merkel-Getreuer, ein Karrierepolitiker mit Jura-Examen, der sich von der Jungen Union bis in die Regierungsbank hochgedient hat.

Doch er verkörpert auch eine typische Aufsteigerbiographie: Als Kind von Vertriebenen wächst er mit zwei Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Mutter stirbt früh, der Vater wird arbeitslos. Ronald geht zur Hauptschule. Sein damaliger Lehrer Eberhard Kox, selbst in der SPD, wollte ihn gerne für die Sozialdemokratie gewinnen. „Der war ziemlich aufgeweckt und konnte gut reden“, erinnert sich der 69-Jährige. Ronald Pofalla aber trat der Jungen Union bei. Spricht man mit seinen Weggefährten, lassen diese wenig Zweifel daran, dass er dies auch aus Karrieremotiven tat: „In unserer Region kann man in der Union gestalten und etwas erreichen“, sagt Parteikollege Günter Bergmann.

Vor Jahren warb die CDU mit Jugendfotos heutiger Politiker, um neue Mitglieder zu gewinnen. Das vielleicht erstaunlichste zeigt Ronald Pofalla: Ein junger Mann im Profil ist da zu sehen, die langen Haare reichen bis zu den Schultern. Er trägt eine Baskenmütze. „Die Mädchen schwärmten damals für ihn“, erzählt sein Lehrer Eberhard Kox. Heute ist Pofalla zweimal geschieden und kinderlos. Er sei auch ein Rebell gewesen, aber nie ideologisch. „Er hat sich selbst immer als Pragmatiker gesehen, er wusste, wie man Mehrheiten organisiert“, sagt Kox. Mit 19 Jahren wird Ronald Pofalla Vorsitzender der CDU-Mehrheitsfraktion in seiner Heimatgemeinde.

Es ist ein erster großer Sprung, ein Vertrauensvorschuss, den ihm die Alten in der Partei geben. „Ihm ist sicherlich nichts geschenkt worden. Ronald musste immer etwas mehr leisten als die anderen“, ist Günter Bergmann überzeugt, die beiden haben sich bei der Jungen Union, er ist für Höheres berufen. Der stete Aufstieg in der Partei überraschte Ulrike Ulrich wenig. Auch sie kennt Pofalla schon seit jungen Jahren, er wollte sie zur Landtagskandidatin machen: „Ronald war schon als Jugendlicher ein Vollprofi, ein politisches Naturtalent.“ Ohne Abitur studiert er an der Fachhochschule Düsseldorf Sozialpädagogik, beginnt anschließend sein Jura-Studium. Er steigt zum Vorsitzenden der Jungen Union in Nordrhein-Westfalen auf und noch bevor er sein zweites Staatsexamen in der Tasche hat, schafft er es 1990 über die Landesliste in den Bundestag. Vier Jahre später nominiert man ihn für das Direktmandat.

„Wahrscheinlich wat Dringendes in Berlin“

Einige Tage nach dem Wahlkampfauftakt in Rees sitzt Ronald Pofalla bei einer Podiumsdiskussion in Emmerich, noch so ein Ort in seinem Wahlkreis. Neben ihm sitzen die SPD-Frau Barbara Hendricks und zwei Kandidaten von FDP und Grünen. Es geht um eine Bahnlinie, die wohl schon seit Jahren für viel Lärm sorgt und bei der es an Bahnübergängen mangelt – eine Bürgerin beschwert sich. Als wollte er den Vorwurf entkräften, er sei abgehoben, „machtarrogant“, setzt Ronald Pofalla zur Erklärstunde an.

Noch vor wenigen Wochen sei er in Millingen, einem 3000-Seelen-Ort, gewesen und habe sich dort überzeugen lassen, dass es möglichst bald eine Bahnunterführung braucht. „Der Ort wird sonst praktisch zerrissen“, sagt er. Und nein, in Hüthum, einem anderen Dorf irgendwo am Niederrhein, da sei die Situation eine ganz andere. Er nennt viele Zahlen, mit denen er lächelnd immer wieder belegt, wie sachkundig er die lokalen Probleme beurteilen kann und spielt zum Schluss die Regierungskarte: Mit Bahn-Chef Rüdiger Grube habe er Kontakt aufgenommen und sich bereits um eine Lösung bemüht.

Rund 30 Bürger haben sich im Pfarrheim Aldegundis versammelt, drei davon sind Pofallas Personenschützer. Sie tragen dunkle Anzüge und unterschreiten den Altersschnitt der sonstigen Besucher deutlich. Die Menschen hier fragen nicht nach NSA-Verwicklungen oder Euro-Krise. Sie wollen wissen, was die Kandidaten zu lokalen Themen sagen. Ronald Pofalla weiß das und er hält sich daran. Nur einmal kommt er ins Dozieren, da gibt er den Weltpolitiker: Bestimmt zehn Minuten lang wägt er Gefahren und Nutzen des Fracking-Verfahrens in den USA ab, um dann am Ende zu sagen: „Aber im Kreis Kleve wird es das erst mal nicht geben.“

Es ist 21:16 Uhr. Die Podiumsdiskussion ist beendet. Pofalla steht auf, schüttelt kurz die Hände der Konkurrenz und noch bevor die ersten Besucher ihre Stühle wieder zurechtrücken, hört man auf dem Flur seine schnellen Schritte. Die drei Leibwächter eilen ihm hinterher. Ronald Pofalla springt in den Fond seiner schwarzen Limousine, die vor dem Pfarrheim hält. „Wahrscheinlich wat Dringendes in Berlin, ne?“, sagt ein Mann. Das wuchtige Fahrzeug wendet und bahnt sich einen Weg durch die schmale Straße. Ja, wahrscheinlich Berlin. Ronald Pofalla wird nicht müde zu sagen, wie sehr er seine Heimat liebt. Aber vielleicht geht es ihm wie erwachsenen Kindern, die ihre Eltern besuchen: Es ist immer schön, wieder zu Hause sein, aber nach einigen Stunden, manchmal auch ein paar Tagen wird es zu eng, zu klein und man muss wieder zurück ins richtige Leben, in die große Welt.

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