Warum niemand hungern müsste

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Über den Welthunger gibt es viele komplexe Wahrheiten. Es gibt aber auch ein paar einfache. Eine davon: Es gibt genug Lebensmittel auf der Erde. Niemand müsste hungern, wenn Getreide, Reis, Gemüse und Co. nur richtig verteilt wären. Eine andere ist: Immer noch hungern 870 Millionen Menschen. Das geht aus dem Welthungerindex hervor, den die Welthungerhilfe am Montag zum achten Mal veröffentlicht hat.

Demnach hungern im Vergleich zu 1990 zwar 34 Prozent weniger Menschen. In einigen Regionen, etwa Afrika südlich der Sahara und Südasien, ist die Lage jedoch noch immer dramatisch. Weltweit gerechnet stirbt etwa alle zwölf Sekunden ein Kind an Unterernährung. Eine weitere Wahrheit: Im Jahr 2050 kann sich eine Welt mit neun Milliarden Menschen nicht mehr nachhaltig ernähren.

Bewaffnete Konflikte, Naturkatastrophen und hohe Nahrungsmittelpreise sind laut Welthungerhilfe drei Faktoren, die besonders negative Auswirkungen auf die weltweite Ernährungssituation haben. Dabei bräuchte man verhältnismäßig nicht einmal besonders viel Geld für die Bekämpfung des Welthungers. Nach Einschätzung der Uno würden sechs bis sieben Milliarden US-Dollar bereits ausreichen. Allein: Es fehlt auch an dieser Summe.

Die Lebensmittellogistik könnte Teil der Lösung jenseits der Problematik von politischen Konflikten, Landraub, Ausbeutung und Misswirtschaft sein. Denn selbst lange Distanzen können mit Flugzeug – bei leicht verderblicher Ware – und Schiff schnell überbrückt werden. Nach Europa werden längst Tausende Tonnen Gemüse aus China, Äpfel aus Neuseeland und Kakaobohnen aus Kolumbien geflogen und verschifft.

„Das ginge alles – auch für die ärmsten Länder“, sagt Wolfgang Bode, Professor am RIS-Institut für Verkehr und Logistik in Osnabrück. Aber nur, schränkt er ein, wenn Geld keine Rolle spielen würde. Denn ökonomisch – und da sind sich Logistiker, Landwirtschaftsökonomen und Entwicklungsorganisationen einig – wäre es ein Wahnsinn, hungernde Menschen mit Lebensmitteln innerhalb komplizierter und daher teurer Kühlketten aus den Industrienationen zu versorgen.

Ein Großteil dieser horrenden Transportkosten fällt dabei erst kurz vor dem Ziel an. Schuld ist oft eine katastrophale Infrastruktur in den betroffenen Regionen. Ein Vergleich der Transportkosten pro Kilometer in US-Cent zeigt das Gefälle. Während sie etwa innerhalb von Frankreich bei fünf US-Cent liegen, sind es zwischen Douala (Kamerun) und N’Djaména (Tschad) elf, also mehr als das Doppelte.

Alternative Wege zu schlechten oder nicht vorhandenen Straßen per Bahn oder Schiff gibt es nicht. Forscher und Welthungerhilfe plädieren auch deshalb für die Stärkung regionaler und lokaler Märkte. Doch sogar lokal wird die Infrastruktur zum Problem: „Wenn eine Frau zum Markt acht Stunden unterwegs ist, um ihr Gemüse zu verkaufen lohnt es sich für sie nicht“, sagt Simone Pott von der Welthungerhilfe. Der Nutzen liegt für sie unter dem Ertrag.

Folgen der grünen Gentechnik für den Menschen unerforscht

Mit kleinen Projekten, etwa Mikrokrediten und Hilfe bei technischen Fragen im Anbau und Know-how für den Verkauf, schafft die Welthungerhilfe etwa in Haiti oder im Niger Projekte für nachhaltiges Wirtschaften – die helfen sollen, Flugzeuge mit Obst, Getreide und Reis aus den reichen Staaten überflüssig zu machen. Mangels Geld bleibt es dabei allerdings bei Leuchtturmprojekten, die allenfalls im Kleinen Erfolge vorweisen und Vorbildcharakter haben können.

Es bleibt auch das logistische Problem: „Der Transport von Bananen zum Beispiel von Uganda an den Hafen von Mombasa ist mehr als doppelt so teuer wie der Transport von Mombasa nach Europa“, sagt Justus Wesseler, Professor für Landwirtschaft und Ernährungsökonomie an der Technischen Universität München.

Auch, weil der Transport per Lastwagen – und anders ist es in den meisten Regionen mangels Infrastruktur kaum möglich – deutlich teurer ist als etwa in der Binnenschifffahrt. Laut Bode um etwa 25 Prozent. Doch weil der Anteil der Transportkosten nur fünf bis zehn Prozent der Gesamtkosten ausmacht, kann Logistik nur Teil der Lösung sein.

Als Kämpfer gegen den Welthunger sehen sich auch Pflanzenzüchter. Mit Genmanipulation, der grünen Gentechnik, gibt es Tomaten mit mehr Vitaminen, Weizen mit mehr Eisen und Mais, der resistenter gegen Dürre und Hagelstürme ist – und vor allem mehr Ertrag auf weniger Fläche bietet. Bei der Produktion von Baumwolle etwa kam es laut Fachmann Wesseler zu einer Steigerung von mehr als 100 Prozent.

Über diese veränderten, sogenannten transgenen Pflanzen gibt es auch eine einfache Wahrheit. Seit sie in den ländlichen Regionen Asiens und Afrikas verstärkt eingesetzt werden, sterben weniger Landarbeiter auf den Feldern. Denn sind die Pflanzen schon genverändert, brauchen sie weniger Pflanzenschutzmittel. Afrika kann sich zwar derzeit nicht selbst ernähren, hat aber das Potenzial dazu – die grüne Gentechnik könnte dabei laut der Experten helfen.

Auch bei der Bekämpfung des stillen Hungers – einer Mangelernährung im Gegensatz zu dem Kalorienhunger – von dem etwa zwei Milliarden Menschen betroffen sind, kann die grüne Gentechnik helfen. Der inzwischen weit entwickelte Vitamin A-reiche Reis ist ein Beispiel. Doch große Erfolge sind damit nicht zu erzielen.

„Dafür sind die Anreicherung der Lebensmittel, Ernährungsberatung und direkte Hilfen über Ernährungs- und Gesundheitsprogramme im großen Stil erforderlich. In diesem Bereich ist ein Quantensprung nötig um bis 2030 eine wesentliche Verbesserung zu erreichen“, sagt Joachim von Braun, Direktor am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) und Professor für wirtschaftlichen und technologischen Wandel.

Auch für die Welthungerhilfe ist eine gentechnische Weiterentwicklung von Pflanzen keine geeignete Lösung. Gentechnik werde nicht bei der Reduzierung von Hunger helfen, sagte die Präsidentin der Organisation, Bärbel Dieckmann. Möglicherweise werde so vielmehr die Abhängigkeit der Kleinbauern von großen Konzernen gestärkt.

In den Industrienationen lehnen sogar die Verbraucher genmanipulierte Lebensmittel mehrheitlich ab. Einen ernsthaften Nachweis einer Gesundheitsgefährdung durch gentechnisch veränderte Nahrungspflanzen hat es dagegen bisher nicht gegeben. Doch noch immer weiß die Wissenschaft zu wenig über die Technologie und vor allem ihre Folgen – auch für den menschlichen Organismus.

Mit unserem Hunger auf Fleisch nähren wir den Welthunger

Wir essen zu viel Fleisch. Noch so eine einfache Wahrheit. Komplizierter wird es, wenn es darum geht, warum – so die immer noch gern gewählte elterliche Argumentation – ein Kind im Sudan satt werden sollte, wenn hierzulande eine Bockwurst auf dem Teller bleibt.

Die Industrienationen fördern mit ihrem Hunger, besonders auf Fleisch, den weltweiten Hunger. Denn die Fleischproduktion ist teuer und verbraucht viele Ressourcen, die an anderer Ecke fehlen. So kostet die Produktion eines Steaks schon allein 10.000 Liter Wasser – und das nasse Element ist in vielen Zonen der Erde, etwa dem Nahen Osten bereits Auslöser von Konflikten. Fachleute nennen das Fußabdruck, in diesem Fall den Wasserfußabdruck, eines Nahrungsmittels.

Der Einfluss auf den Hunger ist also indirekt: über die erhöhten Preise und den Verbrauch von knappem Land und Wasser. „Langfristig wirkt sich das auch auf Degradation von Land und Verlusten an Ökosystemen in der Welt aus“, sagt von Braun.

Außerdem wird in den Industrienationen zu viel weggeworfen. Nach einer Studie des Instituts für Siedlungswasserbau, Wassergüte- und Abfallwirtschaft der Universität Stuttgart wirft jeder Deutsche 82 Kilogramm Lebensmittel jährlich weg, Die industrielle Verschwendung mitgerechnet sind das insgesamt elf Millionen Tonnen.

Doch auch für den Endverbraucher in den Industrienationen gibt es keine einfachen Wahrheiten, wie er im Kleinen mithelfen kann im Kampf gegen den Hunger. Der Kauf von ausschließlich regionalen Produkten schädigt die lokalen Märkte, etwa in Afrika.

Kauft er Produkte von dort, heißt teuer nicht unbedingt, dass „der Sozialindikator miteingepreist ist“, sagt Ernährungsökonom Wesseler. Das heißt, trotz hoher Preise könnten die Arbeiter ausgebeutet und ihnen Hungerlöhne gezahlt werden. „Sie kommen nicht drum herum, sich zu informieren, welche Produkte dabei helfen können“, sagt Wesseler. Also diesmal keine einfache Wahrheit.

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